“Achtsamkeit und Solidarität haben zugenommen”

Gerd Neumann aus der ISA-Leitung (Foto: Nils Müller)
Gerd Neumann aus der ISA-Leitung (Foto: Nils Müller)

Im Frühjahr 2020 erreichte das damals neuartige Corona-Virus Deutschland. Um seine Ausbreitung einzudämmen, beschloss die Bundesregierung Ende März erstmals Kontaktbeschränkungen, das öffentliche Leben kam weitestgehend zum Erliegen. Das zwang auch die AWO-Freiburg zur Improvisation. Einrichtungsleiter*innen von FSJ- und BFD-Einsatzstellen der AWO erzählen aus ihren Erfahrungen. Von der Individuellen Schwerstbehinderten-Assistenz (ISA) berichtet Gerd Neumann:

Welche besonderen Herausforderungen haben sich für Ihre Einrichtung durch die Corona-Pandemie gestellt?

Wir begleiten Schüler*innen mit Handicaps in die Regelschule und unterstützen auch Erwachsene mit körperlichen Einschränkungen in der Einzelassistenz dabei, selbstständig und selbstbestimmt zu leben und ihren Alltag zu Hause und unterwegs zu gestalten. Viele dieser Menschen haben ein besonders hohes Risiko im Falle einer Corona-Infektion. Durch die pflegerischen Aufgaben, die auch dazugehören, waren wir mit dem Thema Hygiene schon sehr vertraut, was ein großer Vorteil war. Auf dieser Basis konnten wir gut aufbauen als es zum Beispiel um Abstand, Masken, Desinfektion ging.

Schwieriger war es, die Assistenznehmer*innen und ihre Angehörigen mit ihren Ängsten aufzufangen. Das stellte hohe Anforderungen an die Mitarbeitenden im Einsatz und in der Einsatzleitung. Die Sorge führte bei einigen Assistenznehmer*innen auch dazu, sich zur Familie zurückzuziehen und Einsätze abzusagen. Durch die Schulschließungen standen einige Mitarbeiter*innen plötzlich ohne Einsätze da. Wir mussten neue Wege finden, die Schüler*innen zu begleiten, z.B. im Home Schooling und im Wechselunterricht. Das war besonders für neue Mitarbeiter*innen schwierig, die während des Lockdowns begannen und die vorherige Situation gar nicht kannten.

Es dauerte eine Weile, bis die technischen Voraussetzungen für Online-Meetings geschaffen waren und wir diese und anderen digitale Möglichkeiten gut einsetzen konnten. Die Ausfälle eines Teils der Einsätze hat uns besonders im ersten Lockdown auch wirtschaftlich geschadet, da sich der Dienst normalerweise ohne Zuschüsse über die Abrechnung der Einsätze finanziert. Diese fielen teilweise weg, während die meisten Kosten weiterliefen. Mit den staatlichen Rettungsschirmen konnte das nur teilweise kompensiert werden. 

Wie sind Sie und Ihr Team damit umgegangen, insbesondere in Bezug auf den Einsatz und die fachliche Begleitung der Freiwilligen?

Wir haben noch mehr telefoniert als sonst und versucht, zunächst hauptsächlich auf diese Weise den Kontakt zu den Assistenznehmer*innen und zu den Mitarbeiter*innen zu halten. Parallel haben wir die Online-Kommunikation aufgebaut, zunächst für Zweiergespräche (zum Beispiel Bewerbung und Reflexion), später auch für Gruppen (Teams und Schulungen). Vor unserem Umzug im November konnten wir durch die Lage unsere alten Büros ein Fenster als „Schalter“ einrichten, etwa zur Abholung von Hygienematerial. Das ermöglichte zumindest ein wenig persönliche Begegnung. Ebenso der nahegelegene Park, den wir für „laufende“ Gespräche nutzen konnten.

In der fachlichen Begleitung haben wir die Themen „Angst und Unsicherheit“, „Einsamkeit durch Kontaktreduzierung“, „Ruhe finden und vermitteln“, die besonders für die Freiwilligen wichtig waren, intensiviert und natürlich auch „technische“ Themen wie Hygiene, Impfungen und Schnelltests.

Wie hat sich der Arbeitsalltag in Ihrer Einsatzstelle durch Corona verändert?

Allen – insbesondere in den Einsätzen – fehlt der persönliche Kontakt, das Unterwegssein in Stadt und Umgebung, die Teilnahme und Teilhabe an Veranstaltungen, Aktivitäten und vielem, was vorher selbstverständlich war. Inklusion ist schwer zu erreichen, wenn die Gelegenheiten dazu eingeschränkt sind. Im Einsatz ist man noch mehr als sonst auf das Gegenüber eingestellt, was Vor- und Nachteile hat. In jedem Fall bedeutet es eine neue Situation, auf die sich alle Beteiligten einstellen müssen. Zum Beispiel muss man sich in Hinblick auf Nähe und Distanz neu verständigen. Im Büro gibt es zwar weniger Termine, dafür aber teilweise zusätzliche Aufgaben zur organisatorischen Bewältigung der Pandemie, die keinen Spaß machen und sehr viel Zeit kosten und die wir viel lieber für Gespräche und Schulungen einsetzen würden. Dazu gehört die Organisation von Schutzausrüstung, Schnelltests, Ausstellung von ständig wechselnden Arbeitgeberbescheinigungen, neue Antrags-, Dokumentations- und Abrechnungspflichten, Umsetzung von Verordnungen und so weiter…

Gibt es auch positive Veränderungen, die durch Corona angestoßen wurden und die Sie nach der Pandemie beibehalten wollen?

Mit dem Ziel, gut miteinander durch die Pandemie zu kommen und sich selbst und das Gegenüber vor Infektionen zu schützen, haben Achtsamkeit und Solidarität zugenommen. Beides war auch vorher schon ausgeprägt. Das jetzige Maß würden wir gerne erhalten. Es ist zugleich eine schöne Erfahrung und bisher auch erfolgreich, weil sich keiner unserer Assistenznehmer*innen infiziert hat und nur ganz wenige Mitarbeitende, alle mit leichtem Verlauf. Hoffentlich bleibt es so.

Die Online-Kommunikation ist für die ISA-Struktur sehr gut geeignet als zusätzliche Möglichkeit, den persönlichen Kontakt zu erleichtern und zu intensivieren. Deshalb werden sie beibehalten und ausbauen. Ad-hoc-Gespräche mit mehreren Teilnehmer*innen sind so einfacher und barrierefreier zu realisieren.

Außerdem haben sich mehr junge Menschen für einen Freiwilligendienst entschieden. Das ist für unsere Arbeit eine wertvolle Unterstützung und ermöglicht den Freiwilligen gute Erfahrungen und Weiterentwicklungen. 

Was nehmen Sie aus der Zeit für sich und die Arbeit mit den Freiwilligen in FSJ und BFD mit?

Es ist eine gute Erfahrung, gemeinsam an der Bewältigung einer Krise zu arbeiten und sich in der Ungewissheit gegenseitig zu stärken. Und wenn es nur ist, indem man diese zulässt und teilt. Trotz aller Belastungen schweißt das auch zusammen und schärft den Blick für das Wesentliche. Das Wahrnehmen und Akzeptieren der eigenen Grenzen stellt eine große Herausforderung dar – für uns selbst und auch für die Arbeit mit den Freiwilligen, deren Einsatz jetzt besonders wertvoll ist und besondere Unterstützung verdient.


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